Staatsleistungen
[Artikel aus: Gerhard Czermak, Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Aschaffenburg 2009. –
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I. Historische Staatsleistungen an Kirchen.
Zum Gesamtkomplex der Kirchenfinanzierung gehört auch der Teilbereich der historischen Staatsleistungen, der freilich im Rahmen der gesamten Kircheneinnahmen (öffentliche, auch vertragliche Subventionen für die unterschiedlichsten sozialen, oft auch spezifisch kirchlichen, Zwecke; Kirchensteuern, d.h. Mitgliedsbeiträge; privatwirtschaftliche Einkünfte und Vermögenserträge; Spenden sowie Gebühren und andere sonstige Einnahmen) nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die „Staatsleistungen“ sind Kritikern des bisher praktizierten Staat-Kirche-Verhältnisses vor allem deshalb ein Dorn im Auge, weil hier die Missachtung des GG und schon der WRV nach ihrer Überzeugung besonders deutlich ins Auge springt. Natürlich wird diese Behauptung bestritten, so dass auch hier eine differenzierte Betrachtung und begriffliche Klarheit erforderlich ist. Es geht hier nicht um irgendwelche Leistungen, die der Staat an die Kirchen erbracht hat und noch erbringt, sondern nur um solche, die durch eine verfassungsrechtliche Sondervorschrift geregelt sind. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist Art. 138 WRV, der über Art. 140 GG unmittelbar geltendes Verfassungsrecht der Bundesrepublik geworden ist. Art. 138 betrifft das Vermögen der „Religionsgesellschaften“. Er bekräftigt die in Art. 137 I WRV verfügte grundsätzliche institutionelle Trennung, d. h. Entflechtung von staatlichen und religiös-weltanschaulichen Organen, speziell für den vermögensrechtlichen Bereich. Art. 138 II WRV garantiert als Sondervorschrift zu Art. 14 GG das Eigentum und umfassend das Vermögen der Religionsgemeinschaften (s. unter Kirchengutsgarantie). Ausgenommen ist die für die „Staatsleistungen“ allein maßgebliche Spezialvorschrift des Art 138 I WRV. Er lautet: „Die auf Gesetz, Vertrag oder auf besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“
II. Fehlender Wille zur Ablösung der Staatsleistungen.
Niemand bestreitet die auch heute noch bestehende formale Gültigkeit dieser 1919 in Kraft gesetzten Anordnung des Art. 138 I WRV. Aber völlig ungerührt konstatieren die meisten der Juristen, die sich mit dieser Materie beschäftigen, nach 1919 sei kein Reichsgesetz und nach 1945 kein Bundesgesetz zustande gekommen, das Ablösungsgrundsätze für die Länder festlege. Daher hätten die Länder keine Ablösungsgesetzgebung erlassen könnrn. Es bleibt nach dieser Meinung alles beim Alten, wie seinerzeit die Übergangsvorschrift Art. 173 WRV sogar ausdrücklich bestimmte. Der 1919 bestehende Besitzstand an Staatsleistungen darf demnach bis zur Ablösung nicht angetastet werden. Sollen und müssen daher diese meist regelmäßigen, jedenfalls wiederkehrenden Leistungen bis zum St.-Nimmerleins-Tag erbracht werden? Denn ein politischer Änderungswille ist nicht ersichtlich, obwohl immer mehr Menschen die großen Kirchen verlassen und immer weniger der Verbleibenden bei stark gesunkener lebenspraktischer Bedeutung der Kirchen auch nur die wenigen zentralen Glaubensvorgaben ihrer Konfession akzeptieren. Alle parteipolitischen Forderungen nach Kürzung staatlicher Leistungen, selbst stark Benachteiligte betreffend, klammern die reichen Kirchen bisher vollständig aus.
III. Historische Gründe für Staatsleistungen.
Die 1919 bestehenden, den Staat verpflichtenden und zur Ablösung vorgesehenen S. waren im Wesentlichen als Ausgleich gedacht für die staatlichen Säkularisationen der Neuzeit, d.h. die Übernahme von kirchlichem Land und Vermögen zum einen durch die reformatorischen Fürstenstaaten und im Zusammenhang mit dem Westfälischen Frieden von 1648, vor allem aber als Folge des Regensburger Reichsdeputationshauptschlusses (RDHS) von 1803. Die dort verabschiedete Verfassungsrevolution bedeutete u.a. die Auflösung der historisch ohnehin dem Untergang geweihten geistlichen Staaten und die Bildung moderner und lebensfähiger neuer Staaten, die sich aber weiterhin als christliche Staaten verstanden und finanziell für die Kirchen sorgten. Es ging um den kirchlichen Unterhalt, insb. Kultus, durch eine Fülle von zweckgebundenen Dotationen. Schon § 35 RDHS hatte gefordert, dass die neuen Landesherren u.a. den Aufwand für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten sowie Pensionen für Geistliche übernehmen. Es ging bzw. geht um kirchliche Verwaltungskosten, Ausbildung, Besoldung und Versorgung von Geistlichen, den Gesamtbedarf einzelner Kirchengemeinden oder Landeskirchen und Stiftungen. Die Leistungen konnten erbracht werden in Form von Geldleistungen oder Naturalleistungen. Noch heute praktisch bedeutsame Bedarfsleistungen sind die vom Staat und, insoweit streitig, von den politischen Gemeinden zu tragenden Kirchenbaulasten.
IV. Die Weimarer Regelung.
1. Die zitierte Regelung der WRV, das Ablösungsgebot, setzt eine im „Normaljahr“ 1919 noch nachweislich mit Rechtsgrund bestehende S. voraus, wobei eine Fülle unterschiedlicher Rechtstitel wie landesherrliches Privileg und, insbesondere bei den evangelischen Kirchen, selbst Gewohnheitsrecht in Frage kamen. Eine bloß tatsächliche Üblichkeit der Leistungserbringung allein konnte nicht ausreichen. Denn wer sich auf ein Recht beruft, muss dessen Bestand nachweisen. Dass zu den „Staatsleistungen“ im Sinn des Art. 138 WRV solche des Reichs bzw. Bundes nicht gehören, ist unstreitig. Entsprechendes galt 1919 auch für kommunale Leistungen. Heute werden diese überwiegend trotzdem dazu gerechnet, wohl weil man die fiktive Rückverlegung der heutigen anderen Rechtsposition der Gemeinden auf 1919 für kirchengünstiger hält.
2. Zu den „positiven“, d. h. direkten Staatsleistungen, kommen möglicherweise noch sog. negative Staatsleistungen hinzu. Das sind indirekte Zuwendungen in Form von Steuer- und Gebührenbefreiungen. Diese werden vom Text der WRV zwar nicht erfasst und waren von Anfang an umstritten, werden aber heute von der „herrschenden Meinung“ im Hinblick auf eine den Wortlaut des WRV weit überziehende Meinung des Reichsgerichts von 1931 ebenfalls als grundsätzlich garantiert angesehen. Die vom BVerfG noch nicht entschiedene Frage der Verfassungsresistenz negativer Staatsleistungen dürfte derzeit unabhängig vom Vorrang des Ablösungsgebots vor der provisorischen Bestandssicherung schon deswegen keine praktische Rolle spielen, weil unsere Steuergesetze die Kirchen ohnehin in größtmöglichem Umfang begünstigen (s. Steuer- und Gebührenvergünstigungen).
V. Heutige Situation.
1. Seit 1919 haben die Kirchen Leistungen erhalten, die insgesamt weit über das hinaus gehen, was bei einer ordnungsgemäßen Ablösung i.S. des Art. 138 WRV seinerzeit erwartet werden konnte – das war damals vielleicht der 10- oder 15-fache Jahresbetrag. Man darf sich daher wundern, dass die immer noch wohlhabenden Kirchen ihre Positionen selbst hinsichtlich der in ihrem Finanzierungssystem relativ nebensächlichen historischen Staatsleistungen mit Zähnen und Klauen verteidigen. Insbesondere zahlreiche bayerische Gemeinden lassen sich trotz aller Finanznöte und Verschuldung noch von den Kirchen wegen alter, im Einzelfall ganz erheblicher Kirchenbaulasten in Anspruch nehmen, obwohl selbst das BVerwG solche kommunalen Leistungen schon 1967 für ungerechtfertigt erachtet hat. Im übrigen können auch Dauerschuldverhältnisse erlöschen, und so ziemlich alle Staatsleistungen dürften durch die zeitliche Dauer der Zahlungen längst abgegolten sein. Der missachtete Verfassungsauftrag zur Ablösung der historischen Staatsleistungen ist, so gesehen, in eine Pflicht zur Einstellung dieser Leistungen umgeschlagen. Allenfalls wäre daran zu denken, aus Kulanz eine knapp befristete Auslaufregelung zu gewähren. Ein rechtlicher Grund zur weiteren Erbringung von Staatsleistungen ist nicht ersichtlich.
2. So gesehen sind die juristisch diskutierten formalen Fragen der Zulässigkeit und des Inhalts einer Ablösegesetzgebung (dazu Czermak, 2004 und Wolff, 2003) hinfällig. Jedenfalls ist sehr fraglich, ob die für die Jahre nach 1919 sicherlich bestehende, als vorläufige Bestandssicherung wirkende Nichtexistenz einer reichsrechtlichen Ablösegesetzgebung nach bis heute währendem Verfassungsverstoß selbst heute noch eine Sperrwirkung zu Gunsten der abzulösenden Staatsleistungen entfalten kann. Der – letztlich zuständige – Landesgesetzgeber muss daher etwaige (unzutreffend) doch noch angenommene Leistungspflichten auch einseitig gesetzlich ablösen können. Eine einvernehmliche Ablösung bzw. Bereinigung des Wustes alter tatsächlicher oder vermeintlich bestehender Rechte ist nach 1949 übrigens in großem Umfang schon erfolgt (vertragsrechtlich vereinbarte Pauschalzahlungen, Verrentungen).
VI. Neubegründung von Staatsleistungen.
Die Verrentung wirft die bekannte Frage der Zulässigkeit der Neubegründung von Staatsleistungen auf. Dabei geht es – wohlgemerkt – nicht um Subventionen, d. h. Zuschüsse, die der moderne Leistungsstaat natürlich grundsätzlich – bei Beachtung des Neutralitätsgebots – an alle möglichen Vereinigungen und Institutionen, auch Religionsgemeinschaften, vergeben kann (s. Religionsförderung). Die Neubegründungsproblematik betrifft nur die altrechtlichen Staatsleistungen gem. Art. 138 WRV. Die Rechtsliteratur räumt heute zunehmend ein, dass die Zulassung neuer Staatsleistungen als Ersatz für alte den Sinn der Vorschrift auf den Kopf stellen würde. Die WRV wollte die endgültige Abwicklung, und sei es in Ratenzahlungen. Es ging also um eine Institutsliquidation, die die Trennung von Staat und Religion auch finanziell vollzieht. Auch der Wortlaut des Art. 138 I WRV gibt keinen Anhaltspunkt für Aufweichungen des Verfassungsgebots (eingehend: Brauns und Droege). Folgt man dem, so verstoßen zahlreiche Regelungen in Staat-Kirche-Verträgen, die ja jeweils in Landesgesetze „transformiert“ wurden, gegen das GG, insbesondere auch in den neuen Bundesländern. Aber in der Vertragsmaterie hat ja der Grundsatz „Im Zweifel für die Kirche“ einen geradezu klassischen Standort.
VII. Zum Umfang der aktuell entrichteten Staatsleistungen.
1. Wenn man entgegen der hier vertretenen Ansicht von noch vorhandenen, also nicht durch Zeitablauf und erfolgte Zahlungen gegenstandslos gewordenen kirchlichen Rechten ausgehen wollte, würde sich die Frage nach dem mutmaßlichen Umfang von etwa doch noch vorhandenen kirchlichen Forderungen stellen. Wenn hierzu etwa der langjährige Leiter des kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Axel von Campenhausen, erklärte, eine einmalige Ablösungszahlung würde den Bundesländern finanziell Unmögliches abverlangen, weswegen Geldrenten erforderlich seien, so kann man das getrost als Abschreckungspropaganda einstufen. Die bahnbrechende Untersuchung von Carsten Frerk, „Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“ (2002) kommt ausweislich der Haushaltspläne der Länder (ausgenommen die nicht einschlägigen Länder Bremen und Hamburg) zu einem Betrag von insgesamt knapp 912 Millionen DM, die im Jahr 2000 an Staatsleistungen gezahlt wurden. Davon entfallen knapp 186 Mill. auf Ba-Wü und knapp 161 Millionen auf Bayern. Die katholische Kirche erhielt in Bayern 121 Millionen als historische Staatsleistungen, die ausschließlich kircheninterne Zwecke betreffen. Den größten Teil machten Gehälter, Gehaltszuschüsse und Pensionen für Seelsorgegeistliche, Bischöfe, Generalvikare, Bischofssekretäre, Erzieher an Priester- und Knabenseminaren u.a. aus. Ein einschlägiges bayerisches Gesetz stammt aus dem Jahr 1925 und heißt: „Gesetz über die Bezüge der Erzbischöfe, Bischöfe und Mitglieder der Domkapitel sowie über die Zuschüsse zum Personalaufwand des Landeskirchenrats“. Es wird mit ergänzenden Verordnungen laufend aktualisiert.
2. Aber selbst in Bayern und Baden-Württemberg sind die aktuell bezahlten Beträge nur ein kleinerer Bruchteil des Gesamthaushalts, so dass selbst bei dieser kirchengünstigen Basis von einer Überforderung durch eine Gesamtablösung keine Rede sein kann. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Länder für die Kirchen ja im übrigen zusätzlich ein Vielfaches der für Staatsleistungen aufgewendeten Beträge anderweitig zahlen. Carsten Frerk kommt unter Bezugnahme auf das Statistische Bundesamt für den 1.1.1999 auf nicht weniger als 7,438 Milliarden DM Länderzahlungen an die großen Kirchen, soweit diese Zahlen überhaupt zugeordnet werden konnten. Für die etwaige Ablösung der Staatsleistungen, die nur einen angemessenen Ausgleich und keine (auch kaum bezifferbare) volle Wertentschädigung darstellen dürfte, könnten im übrigen Jahresraten festgelegt werden, die allenfalls dieselbe Höhe wie die bisherigen Zahlungen aufweisen, aber in absehbarer Zeit ein endgültiges Ende fänden.
VIII. Kritische Schlussbemerkungen.
Selbst wenn man unrealistisch selbst nach heute 90 Jahren noch von der rechtlichen Existenz einer Ablöseverpflichtung ausgehen wollte, wären beim angemessenen Ausgleich betragsmindernde Umstände zu berücksichtigen. Heribert Prantl stellte 1995 zu Recht fest: „Wer vor 190 Jahren von Napoleon enteignet wurde, ist…weit besser dran als derjenige, dem dies vor 40 Jahren durch die Sowjets geschah. Die einen werden bis heute üppig entschädigt, die anderen müssen sich mit allgemeinem Bedauern trösten.“ Zudem war die Säkularisierung geistlicher Herrschaftsgebiete 1803 historisch zwangsläufig und die Basis für moderne Staaten, und die Kirchen hatten aus den revolutionären Umwälzungen auch Vorteile (s. Stichwort Säkularisation). Es kommt hinzu, dass die Kirchen – zitiert sei aus einer juristischen Festschrift – „nicht unbeträchtliche Vermögensmassen aufgrund von Umständen erworben haben, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlichtweg unvereinbar sind, weshalb sie für deren Verlust redlicherweise keinen Ausgleich verlangen können“. Wie viel bliebe nach allem selbst bei kirchengünstigster Ansicht heute noch billigerweise zu entschädigen? Ungeachtet dieser rein theoretischen Hilfserwägungen bleibt es dabei: Es gibt heute weder eine Legitimation, noch einen rechtlichen Grund zur weiteren Erbringung von historischen Staatsleistungen, noch eine Befugnis, gleichgeartete Leistungen zugunsten speziell der Kirchen oder auch einzelner anderer Religionsgemeinschaften gleichheitswidrig neu zu begründen. Kritikerdie die weitere Zahlung von historischen Staatsleistungen als Symptom für den Willen zum Rechtsbruch zu Gunsten der Kirchen auffassen, haben guten Grund dazu.
Literatur:
Brauns, Hans-Jochen: Staatsleistungen an die Kirchen und ihre Ablösung, Berlin 1970 (krit., aber anerkanntes Standardwerk); v. Campenhausen, Axel: Staatskirchenrecht, 4. A. 2006, 281-289; Czermak, Gerhard: Zur Ablösung der historischen Staatsleistungen an die Kirchen. Hinweise zu einem vergessenen Verfassungspostulat und zur religiös-weltanschaulichen Gleichberechtigung DÖV 2004,110-116; Czermak, Gerhard: Das Religionsverfassungsrecht im Spiegel der Tatsachen, ZRP 2001,565-570; Droege, Michael: Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, Berlin 2004, 639 S. (Standardwerk); Frerk, Carsten, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, Aschaffenburg 2002, 435 S. (grundlegend; zahlr. Tabellen); Isensee, Josef, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Hdb. des Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2. A. 1994, 1009-1063; Renck, Ludwig, Die unvollkommene Parität, DÖV 2002,56-67 (62 ff.); Wolff, Heinrich Amadeus: Ablösung der Staatsleistungen an die Kirche, ZRP 2003,12-14 (formellrechtliche Fragen).
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