Es ist ein bemerkenswertes Phänomen: Parallel zur sinkenden Kirchenbindung der Bevölkerung steigen die Dotationen der Bundesländer für die Kirchen immer weiter an: 1970, als noch rund 93 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Kirchenmitglieder waren, lagen die sogenannten Staatsleistungen an die Kirchen bei 122 Millionen Euro. 1990, als die Kirchenmitgliederquote auf 73 Prozent gesunken war, zahlten die Bundesländer 267 Millionen Euro. Inzwischen sind die Staatsleistungen auf die bisherigen Rekordsummen von 499 Millionen Euro (2015) bzw. 510 Millionen Euro (2016) angewachsen, obwohl nur noch 59 Prozent der Bürgerinnen und Bürger den Großkirchen angehören.
Carsten Frerk, der diese Zahlen am heutigen Montag in Berlin vorstellte, wies darauf hin, dass die Staatsleistungen nicht, wie vielfach unterstellt wird, zur Unterstützung konfessioneller Sozialdienstleistungen dienen, etwa von Kindergärten, Krankenhäusern oder Altenheimen, die auf anderem Wege öffentlich subventioniert werden, sondern zur Finanzierung innerkirchlicher Angelegenheiten, etwa der Gehälter katholischer und evangelischer Bischöfe, die – neben sonstigen Vergünstigungen – zwischen 10.000 und 13.000 Euro monatlich verdienen: „Außer in Bremen und Hamburg werden alle deutschen Steuerzahler, auch konfessionsfreie, jüdische oder muslimische Bürgerinnen und Bürger, zur Finanzierung innerkirchlicher Belange herangezogen. Begründet wird dies mit Enteignungen der Kirche im frühen 19. Jahrhundert. Allerdings waren die damaligen Entschädigungsvereinbarungen nur für einen eng begrenzten Zeitraum gedacht, keineswegs ‚für die Ewigkeit‘. Im Nachhinein ist es Kirchenvertretern jedoch gelungen, eine völlig andere Sichtweise im politischen Raum zu etablieren. Auf Basis dieser Geschichtsverfälschung wurden im 20. Jahrhundert verschiedene Staatskirchenverträge geschlossen, die seit 1949 viele Milliarden Euro in die Kirchenkassen gespült haben, obwohl diese Zahlungen laut Verfassung schon seit knapp 100 Jahren eingestellt sein sollten.“
Frerk zufolge ist die Ignoranz der deutschen Parlamentarier gegenüber dem eindeutigen Verfassungsauftrag der zeitnahen Ablösung der Staatsleistungen aus dem Jahr 1919 nicht zuletzt auf die enge personelle Verflechtung von Kirche und Staat in Deutschland zurückzuführen, die er in seinem unlängst erschienenen Buch „Kirchenrepublik Deutschland“ aufgedeckt hat: „Die deutsche Politik wird seit Jahrzehnten von engagierten Kirchenmitgliedern bestimmt, die von Kirchenlobbyisten entsprechend beeinflusst wurden und werden. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass das Verfassungsgebot nun schon seit fast einem Jahrhundert ignoriert wird. Offenkundig gehen die wenigen Politiker, die sich überhaupt mit dem Thema beschäftigen, davon aus, dass die Staatsleistungen nur durch Zahlung einer hohen Ablösesumme ausgesetzt werden könnten. Kirchenvertreter haben dafür immerhin das 24fache der derzeitigen Jahresleistungen gefordert. Das heißt: Die Kirchen verlangen heute sage und schreibe 12 Milliarden Euro für Enteignungen, die vor mehr als 200 Jahren stattgefunden haben. Ich halte dies für grotesk – vor allem, wenn man bedenkt wie vielen Menschen und Institutionen in den letzten beiden Jahrhunderten durch Krieg und Vertreibung die Existenzgrundlage geraubt wurde, ohne dass ihnen der Staat in vergleichbarer Weise mit ‚Staatsleistungen’ zur Seite gestanden hätte.“
Auch der Jurist Johann-Albrecht Haupt (Humanistische Union), der Frerk bei der Aufstellung der historischen Staatsleistungen unterstützt hat, meint, dass es nicht sein könne, „dass die hoch verschuldeten öffentlichen Hände weiterhin in verfassungswidriger Weise dreistellige Millionenbeträge an Kirchen zahlen, die selbst schuldenfrei, vermögend und zudem in der Lage sind, sich durch die von ihnen festzusetzende Kirchensteuer selbst zu finanzieren.“ Zudem sei es illegitim, eine hohe Summe für die Ablösung der Staatsleistungen anzusetzen, da die jährlichen Zahlungen, die seit Inkrafttreten des Verfassungsgebotes erbracht wurden, als hinreichende Ablöseleistung gewertet werden müssten.
Der Vorstandssprechersprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, formuliert diesen Sachverhalt noch ein wenig schärfer: „Angesichts der Milliardenbeträge, die in den letzten Jahrzehnten verfassungswidrig vom Staat an die Kirchen geflossen sind, ist die Ablösesumme für die Staatsleistungen längst beglichen. Tatsächlich hat der Staat ein Vielfaches von dem gezahlt, was den Kirchen im Jahr 1919 zugestanden hätte. Die Vertreter der Kirchen sollten also froh sein, die übermäßig erbrachten staatlichen Leistungen nicht zurückzahlen zu müssen, statt weitere Milliarden an Steuergeldern zu verlangen. Wir fordern die deutschen Politikerinnen und Politiker auf, die Staatsleistungen an die Kirchen schnellstmöglich durch ein entsprechendes Rahmengesetz aufzuheben – und zwar ablösefrei! Alles andere wäre ein Verrat an den Prinzipien der Verfassung.“ Kritikern, die meinen, der Staat müsse die Kirchen weiterhin für Territoriumsverluste vor 200 Jahren entschädigen, empfiehlt Schmidt-Salomon, „sich einmal bewusst machen, auf welchen Wegen die Kirchen dereinst zu ihren Besitztümern gelangt sind“: „Hätten die Kirchen die Opfer ihrer Kriminalgeschichte ähnlich großzügig entschädigt, wie sie selbst vom deutschen Staat entschädigt wurden, hätten sie längst Konkurs anmelden müssen.“
Quelle: giordano-bruno-Stiftung