Bündnis 90/Die Grünen: Abschlussbericht der Parteikommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“.

In diesem Abschlussbericht werden auch Vorschläge zum Religionsverfassungsrecht und zu den Staatsleistungen formuliert (Seite 33 – 35). Kernpunkte dabei sind die Forderung der Einsetzung einer Expertenkommission durch die Bundesregierung zur Erfassung der Staatsleistungen sowie der unverzügliche Beginn von Gesprächen der Länder mit den katholischen Bistümern und den evangelischen Landeskirchen.

Ablösung der Staatsleistungen

„Nach Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 ist der Bund verpflichtet, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, nach der die Länder Gesetze zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften erlassen müssen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen diesen Verfassungsauftrag endlich umsetzen. Das aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 unverändert in das Bonner Grundgesetz von 1949 inkorporierte Ablösegebot ist zwar nicht durch Fristen festgelegt, es ist aber doch zwingend. Es sollte realisiert werden, um eine an dieser Stelle überfällige weitere Entflechtung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen zu erreichen. Die von einzelnen Autoren vorgeschlagene Neubegründung der Staatsleistungen durch säkulare, aus der Verfassung zu gewinnenden Zielsetzungen des heutigen, demokratisch verfassten Staates — etwa des Wohlfahrts- oder Kulturauftrags — halten wir für den falschen Weg. Die Ablösung der altrechtlichen Staatsleistungen betrifft ausschließlich die Leistungen an die beiden großen christlichen Kirchen. Leistungen beispielsweise an die jüdischen Gemeinschaften bleiben davon unberührt. Um ein „Ablösegrundsätzegesetz“ vorzubereiten, wollen wir sofort die nötigen Vorarbeiten veranlassen.
Dazu fordern wir, dass durch die Bundesregierung unverzüglich eine Expertenkommission eingesetzt wird, die eine Gesamtübersicht über die Staatsleistungen im Sinne des Artikels 138, Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 anfertigt und Vorschläge für die Gesetzgebung unterbreitet. Außerdem fordern wir den Bund und die Länder auf, in konkrete Gespräche einzutreten. Angesichts der unterschiedlichen Situation und der unterschiedlichen Höhe der gezahlten Leistungen in den Ländern wird es jeweils individuelle Lösungen geben müssen. So betragen die Staatsleistungen in Berlin im Jahr 2015 „nur“ gut 10,8 Millionen Euro, in Baden-Württemberg liegen sie 2015 bei gut 112,5 Millionen Euro. Parallel dazu sollte ein Dialog mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland begonnen werden, um möglichst zügig die erstrebten Ablösungen der Staatsleistungen umsetzen zu können. Das „Ablösungsgrundsätzegesetz“ kann im Rahmen einer Vereinbarung mit oder ohne die Zustimmung der betroffenen Kirchen von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden, da es nur Eckpunkte einer späteren Ablösung festlegt.
Wir werden die gesetzliche Ablösung wie beschrieben weiter vorantreiben. Angesichts der großen Summen, um die es für die einzelnen Gebietskörperschaften und die Kirchen geht, bleibt dieser Weg aber auch künftig schwierig. Aus diesem Grund ist es uns wichtig, zusätzlich und unabhängig von einer umfassenden Lösung einen Weg aufzuzeigen, wie unmittelbar mit der Ablösung der Staatsleistungen begonnen werden kann.
Schon bis heute wurden und werden de facto Ablösungen von Staatsleistungen vorgenommen.
Ein Beispiel sind die in den 1990er Jahren abgeschlossenen Staatskirchen-Verträge in den neuen Bundesländern, denn sie beinhalten eine einvernehmliche pauschalierte Abgeltung staatlicher Verbindlichkeiten, ohne aber den Begriff der „Ablösung“ zu verwenden. Ein weiteres Beispiel sind die von den Ländern getragenen „Baulastansprüche“ (rechtliche Verpflichtung zur Errichtung und Instandhaltung kirchlicher Gebäude).
Diese wurden in vielen Fällen vertraglich durch kirchlichen Anspruchsverzicht oder durch Landesgesetz abgelöst. Zum Beispiel in einer Vereinbarung zwischen dem Erzbistum Paderborn und dem Land NRW. Ähnliches gilt bei den Leistungsverpflichtungen der Länder für die Bereitstellung von Dienstwohnungen und Dotationen (Stellen und Verwaltungskosten). Auch hier kam es teilweise schon zu Ablösungen. Zum Beispiel vereinbarte der Freistaat Bayern im Jahr 2010 mit der katholischen Kirche, dass das Land durch die Zahlung einer einmaligen Summe von der weiteren Finanzierung von Wohnungen für Mitglieder der Domkapitel befreit wurde.
Wir wollen solche, auf Vertrag beruhenden Ablösungen vorantreiben und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Das heißt konkret: Um der Öffentlichkeit eine qualifizierte Darstellung der Staatsleistungen zu geben, fordern wir diejenigen Länder, bei denen das nicht transparent genug ist auf, die jährlichen Haushaltspläne so zu ändern, dass die Staatsleistungen differenziert dargestellt werden:
— nach solchen gemäß Art. 138 Abs. 1 WRV und solchen, die nach 1949 neu begründet wurden;
— nach den begünstigten Religionsgemeinschaften (insbesondere nach katholischen (Erz-)Bistümern und evangelischen Landeskirchen);
— nach positiven und (soweit erhebbar) negativen Staatsleistungen;
— nach den einzelnen Typen von positiven Staatsleistungen (Baulasten, Dotationen; sonstige kirchliche Leistungen);
— nach dem Schuldner (Land oder Kommunen)
Diese Transparenz verstehen wir als Grundlage für weitere vertragliche Ablösungen, die wir zügig und umfassend angehen wollen. Von den betroffenen Religionsgemeinschaften erwarten wir dabei eine konstruktive Mitwirkung.“

Abschlussbericht

 

Zum Hintergrund

Am 16.12.2013 wurde vom Bundesvorstand von Bündnis90/Die Grünen eine Parteikommission eingesetzt,  die sich mit dem Verhältnis Staat/Kirche auseinandersetzen und Vorschläge zum Religionsverfassungsrecht erarbeiten wird.

„Die Kommission bindet ein breites Spektrum an Positionen grüner Politikerinnen und Politiker ein: engagierte ChristInnen, AtheistInnen, religiöse und säkular orientierte MuslimInnen sowie JüdInnen. Geplant sind Dialogveranstaltungen auch in Kooperation mit den grünen Landesverbänden, bei denen die Grünen in den Austausch mit den Religionsgemeinschaften, Verbänden, den Weltanschauungsgemeinschaften und der interessierten Öffentlichkeit treten wollen.“

Der Abschlussbericht, der ursprünglich für Mitte 2015 anvisiert worden war, wurde nun, am 2. März 2016 veröffentlicht.